Authentisch Eltern sein – Kinder begleiten ohne Druck

“Eltern scheinen in diesem Punkt sehr verletzlich zu sein, aus dem simplen Grund, weil es für uns alle wichtig ist, gute Eltern zu sein. Wir haben unsere Messlatte so hoch gesetzt, dass Frustration unvermeidlich geworden ist.“ (Jesper Juul: Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist, S. 83)

Jesper Juul bringt hier wunderbar auf den Punkt, was mich und viele andere Eltern im Alltag bewegt. Wir empfinden Druck und Stress mit dem Thema Elternschaft. Die Messlatte ist unerreichbar hoch und wir versuchen jeden Tag unser Bestes und bleiben doch oft mit dem Gefühl zurück, dass es noch nicht gut genug ist. Frust und Aggression sind nicht selten die Folge. Mein Wunsch und mein großes Anliegen ist es, Eltern zu ermutigen und an dieser Stelle Entlastung zu schaffen. Ihr macht so Vieles so gut! Wahrscheinlich oft, ohne es zu merken. Bedürfnisorientierte Elternschaft, keine Strafen, Bindungsorientierte Elternschaft, … Diese Schlagworte sind in aller Munde und überall zu lesen. Sie klingen groß und nach einem neuen Anspruch. Aber im Grunde genommen ist keines von ihnen als neue Messlatte gemeint. Vielmehr geht es um eine Art der Erziehung, die uns schon ganz intuitiv entspricht und die keinen Anspruch auf Perfektion haben kann. Denn wenn es darum geht, die unterschiedlichen Bedürfnisse von Menschen ernst zu nehmen und sie zu beachten, werden wir nicht ohne Reibungen und Konflikte auskommen. Das ist gut und richtig so.

Wir wissen inzwischen: es ist enorm wichtig, auf die Bedürfnisse unserer Babys prompt und angemessen zu reagieren. Sie lernen so, dass sie wahr- und ernstgenommen werden, fühlen sich wohl und sicher und lernen mit der Zeit durch unseren Spiegel ihre eigenen Gefühle kennen.

Wenn unsere Babys größer werden, entdecken sie nach und nach, dass sie eine eigene Persönlichkeit sind und eben nicht nur unser Spiegel. Sie beginnen zu krabbeln, zu laufen, zu sprechen. Sie bewegen sich eigenständig im Raum und beginnen selbst zu entscheiden. Sie entdecken ihre Autonomie und machen deutlich, was sie gerade wollen. Hier geht es dann nicht mehr um das prompte Stillen eines Grundbedürfnisses wie Hunger, Durst oder Müdigkeit, sondern um Entscheidungen des Kindes und seinen Willen bspw. bei der Auswahl des Pullovers am Morgen. Wenn wir dem Kind von Beginn an seine Emotionen gespiegelt und auf sein Weinen, seine Worte, seine Laute reagiert haben, wenn wir das Kind durch Höhen und Tiefen seiner eigenen Emotionen begleitet haben, hat es eine Bindung zu uns aufgebaut. Eine tiefe, verlässliche Beziehung, die ihm Halt gibt.

In dieser Beziehung kann es sich entfalten und seine Welt entdecken und sich ungehindert ausprobieren. In dieser sicheren Beziehung kann auch ein Kind mit anderthalb Jahren schon laut und deutlich „sagen“, dass es diesen Pullover heute nicht anziehen will. Hier kommen wir an einen spannenden Punkt. Es ist nun an uns, zu entscheiden, ob wir den Willen des Kindes achten, ihn ernst nehmen und darauf eingehen und was wir damit machen. Denn ernst nehmen ist hier nicht gleich zu setzen mit erfüllen. Ich kann einen Wunsch ernst nehmen, kann ihn hören und benennen und dem Kind deutlich machen, dass ich es verstanden habe: „Du willst diesen Pullover heute nicht anziehen.“ Im nächsten Schritt kann ich nun entscheiden, ob es für mich ok ist, dem Wunsch des Kindes nachzukommen und ihn zu erfüllen, oder ob für mich gerade eine Grenze erreicht ist und ich auf meinem Willen beharre, dass das Kind den Pullover anziehen soll, bspw. weil es heute sehr kalt ist. „Ich möchte, dass du den Pullover anziehst, weil es heute so kalt ist“, könnte ich meine Perspektive für das Kind formulieren. So mute ich dem Kind ein Nein zu und das ist ok. Ich kann im Alltag immer wieder abwägen, ob ich einen Konflikt eingehe, weil es mir dieses Nein gerade wert ist, oder ob ich das nicht tue und dem Wunsch des Kindes nachkomme. Im Grunde geht es darum, das Kind in seinem Sein und seinen Wünschen ernst zu nehmen und ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Zum Glück wissen wir heute, dass wir Kinder nicht „fügsam“ machen müssen, sondern dass wir sie begleiten dürfen. Wir dürfen für sie da sein, so wie wir sind. Mit all unseren Kompetenzen und all unseren Schwächen. Und wir dürfen davon ausgehen, dass Kinder, die sich wahr- und ernstgenommen fühlen, von sich aus viel mehr kooperieren als wir denken würden. Sie lernen, Kompromisse zu akzeptieren, weil sie merken, dass sie gesehen sind. Sie lernen zu teilen, weil sie erst einmal besitzen durften…. Wir dürfen ganz wir selbst sein und mit unseren Kindern gemeinsam den Weg der Entwicklung gehen, ohne sie durch Druck, Strafen und Konsequenzen in eine bestimmte Richtung drängen zu wollen und ohne uns selbst den Druck der Perfektion aufzuerlegen.

„Die wirkungsvollste Alternative zu Lob und Tadel in der Familie ist die echte, persönliche Rückmeldung: „Das gefällt mir, das gefällt mir nicht“, „Das mag ich, das mag ich nicht“. Handeln wir authentisch, fühlt sich das für uns selbst und unsere Kinder ganz anders an, als wenn wir Rollen spielen, zum Beispiel die des verständnisvollen Vaters oder die der konsequenten Mutter. Es reicht völlig aus, wenn wir so sind, wie wir sind, denn damit haben wir meiner Meinung nach schon genug zu tun.“ (Jesper Juul: 4 Werte, die Kinder ein Leben lang tragen, S. 84)

Ja, herausfordernd ist Erziehung natürlich trotzdem. So ist es einfach. Auch das dürfen wir akzeptieren. Wir machen Fehler. Jeden Tag. Und wir sind unseren Kindern ein gutes Vorbild, wenn wir uns die Fehler eingestehen und uns bei unseren Kindern entschuldigen, wo es notwendig ist.  Wenn wir uns bewusst sind, dass wir authentisch erziehen wollen und bereit sind, zu reflektieren, wie wir handeln, sind wir schon auf einem sehr guten Weg und dann dürfen wir mutig voran gehen. Wenn wir dann intuitiv handeln, machen wir – so glaube ich, schon sehr, sehr viel richtig. Es geht nicht darum, das Kind auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu erziehen oder zu prägen, sondern darum, es in seinem Sein und seinem Werden zu begleiten. Wach und aufmerksam zu sein für seine Bedürfnisse und diese von seinen Wünschen unterscheiden zu lernen. Wach und aufmerksam zu sein für meine eigenen Bedürfnisse und zu lernen, diese deutlich zu machen. Für mich zu sorgen und dem größer werdenden Kind zuzumuten, dass es ein Nein, ein Stopp, eine Grenze gibt, weil es „mir zu laut ist“ oder „der Herd heiß ist“. Natürliche Konsequenzen aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass wir verschiedene Individuen mit unterschiedlichen Bedürfnissen sind, darum muss es gehen. Wenn wir aufeinander achten und immer wieder neu aufeinander zugehen, gelingt unser Miteinander. Ich als Erwachsene bin in der Verantwortung das Familienleben gut zu gestalten, aber es kann und muss nicht perfekt werden. Gut ist gut genug. Ich bin gut genug. Und unsere Kinder sind es schon längst. Wenn wir aufmerksam hinschauen, können wir viel von ihnen lernen.