Die gute Mutter
Ich lese einen Post auf Insta, betitelt mit „Keine gute Mutter“. Die Influencerin “marliesjohanna” beschreibt, dass sie heute keine gute Mutter war, dass sie „gebrüllt, geschimpft und gedroht“ und dem Kind sogar Angst gemacht habe. Das Kind habe geweint. Sie begründet ihr eigenes Verhalten damit, dass „in mir drin etwas anderes wütet und tobt, immer wieder und wieder“. Sie beschreibt, wie sehr sie ihr Kind liebt und wie leid es ihr tut, dass sie eigene Anteile auf das Kind überträgt. Ihre innere Stimme flüstere ihr bspw. zu, dass ihr Kind „leise sein sollte, brav und angepasst und es zu viel will, immer mehr und mehr und mehr“. Sie schreibt, wie sie selbst über ihre innere Stimme und ihre Ausraster erschrickt und schreibt weiter: „Aber ich weiß, dass das Monster nicht weggeht, wenn ich es nicht an die Hand nehme. Weil es kein Monster ist. Es ist ICH.“ Die Lösung ist für sie, „das kleine Mädchen, dass sich dort versteckt, dass ich auch bin und das gut ist“ an die Hand zu nehmen – also mit ihrem inneren Kind zu arbeiten, eigene Anteile aufzuarbeiten, um es am nächsten Tag besser machen zu können.
Erschrocken nehme ich zur Kenntnis, wie viele tausend Likes der Insta-Beitrag hat und scrolle zu den Kommentaren. Mehr als 200-fache Bestätigung. Tränen der Erleichterung. Anderen geht es auch so. Dankesworte an marliesjohanna, denn sie bringt das eigene Erleben so gut auf den Punkt. Ungläubig scrolle ich von Kommentar zu Kommentar. „What the hell is going on here?“ fragt die ethnographisch forschende Neugierde in mir. Was ist hier los? Ganz klar befinden wir uns hier in der Bubble der BO-Community. Wir erziehen unsere Kinder liebevoll und bindungsorientiert. Da gehören keine Ausraster dazu. Auch keine Strafen oder Manipulation von Kindern. Augenhöhe, Liebe, Respekt, Akzeptanz, sind Schlagworte dieser Runde. Soweit so gut. Werte, die für sich stehen und nach denen wir irgendwie alle streben. Ich würde behaupten niemand fühlt sich gut, wenn er/sie das eigene Kind angeschrien hat und doch passiert das jedem Elternteil mal. Um nicht falsch verstanden zu werden: ich lehne jegliche Gewalt an Kindern ganz entschieden ab und möchte in keiner Weise legitimieren, dass Kinder angebrüllt oder gar hart angefasst werden. Was mich aber erschreckt, ist der Konsens dieser Community: Wir erziehen unsere Kinder bindungsorientiert und liebevoll. Wir wollen nicht ausrasten und tun es doch, weil es so hart ist, weil wir so schlecht geprägt wurden in unserer eigenen Kindheit. Wir wollen es besser machen und arbeiten jetzt an unserem inneren Kind (allein und ohne therapeutische Begleitung? – ich wüsste jetzt nicht auf Anhieb, wie das geht). Wir psychologisieren das Problem, gehen es an und machen es morgen besser. Das Problem wird so auch individualisiert und die Verantwortung, es morgen besser machen zu wollen und zu müssen liegt allein bei den Müttern. Es gibt keine Idee davon, dass es vielleicht auch Entlastung und Unterstützung bräuchte, wenn Ausraster zur Regelmäßigkeit werden. Denn am nächsten Tag wird deutlich: Es hat wieder nicht geklappt! Dann kommen Mütter in einen Kreislauf der eigenen Verurteilung. Sie schämen sich über ihr eigenes Verhalten und sagen sich selbst: Ich bin keine gute Mutter!
Wir Mütter wollen Familienleben verändern. Vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt. Aber es kostet uns alle Kraft, wir sind verunsichert und rasten aus. So sind wir keine guten Mütter! Wir suchen Hilfe und Bestätigung in der Community, finden sie und machen gerade so weiter. Denn wir sind in jedem Fall auf dem richten Weg. Bindungsorientierung ist DIE Lösung!
Achtung: Hier wird mit einem idealen Leitbild gearbeitet, das nicht erreichbar ist! Mütter sollen allzeit gut sein. Nicht wütend, oder wenn, dann wenigstens das eigene Gefühl rechtzeitig bemerken, benennen und gegensteuern. Zumindest gut in der Selbstfürsorge sollten Mütter sein, damit die Ausraster weniger werden. Dann können sie eine gute und sichere Bindung zu ihren Kindern aufbauen und ihnen die bestmöglichen Startchancen in unserer chaotischen Welt ermöglichen. Die Mütter sind verantwortlich! Und sie müssen verfügbar sein. Sie haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie mehr Stunden arbeiten gehen als der Durchschnitt, wenn sie sich rausziehen aus dem Familienalltag, weil sie eine Pause brauchen, wenn sie nicht 24h für ihre Kinder da sind. „What the hell is going on here?“
Es kommt noch schlimmer. Dieses unerreichbare Idealbild macht nicht nur den Müttern, die danach streben enormen Druck, sondern führt zu einer überheblichen Haltung all denjenigen Müttern gegenüber, die vermeintlich weit vom Ideal entfernt sind. So berichtet mir eine Freundin von einem Gespräch in einer Gruppe von Müttern. Eine der Frauen empörte sich darüber, wie es denn sein könne, dass manche Eltern ihre Kinder bis zum späten Nachmittag in einer Einrichtung betreuen lassen. Sie behauptete, diese Eltern würden sich zu wenig Zeit für die eigenen Kinder nehmen. Meine Freundin merkte an, dass es Familien gibt, in denen beide Elternteile lange arbeiten müssten, um genügend Geld für den Lebensunterhalt der Familie zu erwirtschaften. Unverständnis. Nicht nur von der einen Mutter in der Runde. Erschrocken hielt sich meine Freundin mit weiteren Kommentaren zurück. “Wie kann es sein, dass manchen Menschen der Weitblick für Familien in anderen Lebenssituationen fehlt?”, fragt sie mich und wir schauen uns betroffen an. Es ist erschreckend, wie sehr das Ideal einer bindungsorientierten Erziehung (so gut es in seinem Kern auch ist) zu Verurteilung und Ausschluss anderer führt!
Hier läuft etwas gewaltig schief!!! Ich will den Post von Marlies Johanna kommentieren. Einen Gegenpart bilden. Aber mir fällt nicht ein, was ich schreiben soll. Wie ich meine Gedanken auf den Punkt bringe. Denn es ist ja so: Die Community ist sich einig und ich habe eine andere Meinung, die gar nicht gehört werden will. So schreibe ich meine Gedanken erst einmal in den Blog. Mache sie meiner kleinen Community zugänglich und bin gespannt, was die so denkt.
-> Wie erlebt ihr euren Erziehungs- oder Beziehungsalltag? Lebt ihr Bindungsorientierte Erziehung? Wie geht es euch damit?
Ich freue mich über eure Gedanken und Kommentare. Hier oder auf Insta 🙂